Atemberaubende UNESCO-Stätten in Neufundland und Labrador
Den Atlantik mit offenen Holzbooten überqueren? Genau das taten die seefahrenden Wikinger im Jahr 1.000 nach Christus, als sie sich in Grönland auf den Weg machten und knapp 2.200 Kilometer später endlich Land erreichten – und zwar an den Ufern der heute östlichsten Provinz Kanadas. Die archäologischen Überreste ihrer ursprünglichen Siedlung in Neufundland und Labrador können heute noch bewundert werden.
Genau das ist es, was an UNESCO-Weltkulturerbestätten so aufregend ist: globale Hotspots von Kultur, Geschichte und Natur, die uns die Verbindung zur Vergangenheit bildhaft vors Auge führen. Von insgesamt 18 UNESCO-Stätten in Kanada befinden sich in Neufundland und Labrador gleich vier – die alle darauf warten, bei einem malerischen Roadtrip entdeckt zu werden.
Mistaken Point
Mistaken Point Ecological Reserve – Bildnachweis: Newfoundland and Labrador Tourism/Barrett and MacKay
Es gibt alt – und es gibt steinalt. Die ältesten Lebensformen des Planeten wurden im Mistaken Point Ecological Reserve nachgewiesen, der neuesten UNESCO-Welterbestätte der Provinz. In die Liste aufgenommen wurde das Reservat im Jahr 2016, und das zu Recht. Immerhin ist es einer der bedeutendsten Fundorte von Spuren mehrzelliger Lebensformen auf der ganzen Welt. Die bemerkenswerten Fossilien dieses Ortes, Ediacara-Biota, sind mit einem Alter von 575 bis 560 Millionen Jahren ein außergewöhnliches Zeugnis und die ältesten Beispiele für große, biologisch komplexe, mehrzellige Organismen am Meeresboden. Doch nicht nur die Geschichte von Mistaken Point ist einzigartig, auch die Landschaft ist imposant: das windumtoste Ufer aus grasbewachsenen Klippen, die schroffen Felsplatten in Schräglage und das Schauspiel des aufgewühlten Atlantiks verschlagen einem geradezu die Sprache.
Das schmale Gebiet erstreckt sich über 17 Kilometer an der südöstlichen Spitze der Provinz auf der Halbinsel von Avalon, unweit von Trepassey. Was es mit dem Namen „Mistaken Point“ auf sich hat? Gute Frage! Er geht darauf zurück, dass Segler an nebeligen Tagen die Landspitze oftmals mit dem Hafen von Kap Race verwechselten, nördlichen Kurs setzten - und tragisch gegen die Felsen krachten. Auch wenn die Einheimischen bereits jahrelang von ihnen gewusst hatten, war es ein Geologiestudent, der 1967 die enorme wissenschaftliche Bedeutung der Fossilien erkannte. Es verwundert also nicht, dass ein Teil des Küstenabschnitts 1987 zu einem ökologischen Reservat erklärt wurde. Wissensdurstige erfahren im Besucherzentrum „Edge of Avalon Interpretive Centre“ mehr, bevor sie sich auf eine geführte Tour begeben, die täglich von Mitte Mai bis Mitte Oktober um 13 Uhr auf eine Reise in die Urgeschichte entführt – sie ist die einzige Möglichkeit, die im Schlamm und Sandstein eingebetteten Fossilien zu bewundern. Es ist empfehlenswert, bereits weit im Voraus zu buchen.
L’Anse aux Meadows
L'Anse aux Meadows National Historic Site – Bildnachweis: Newfoundland and Labrador Tourism
Archäologiefans kommen bei der Erkundung von L’Anse aux Meadows National Historic Site voll auf ihre Kosten: Die Stätte gilt als erster und einziger Beleg für eine Nordmann-Siedlung und die früheste europäische Siedlung außerhalb Grönlands in Amerika. Sie ist am Nordzipfel Neufundlands gelegen und nur einige Stunden entfernt von der ebenfalls auf dem Viking Trails, dem Wikingerpfad, gelegenen UNESCO-Stätte Gros-Morne-Nationalpark.
Bleiben wir aber vorerst noch ein Weilchen am Nordende der Provinz: Im Rahmen ihrer Expansionsbestrebungen setzte hier um das Jahr 1.000 herum eine Gruppe Wikinger Fuß auf den Boden, sie tauften die wilde Region „Vinland“ und kehrten dem Land nach nur wenigen Jahren wieder den Rücken zu. Einer der Gründe sind mit Sicherheit die Kämpfe mit den Einheimischen. Ein norwegisches Ehepaar, Archäologen und Abenteurer von Beruf, entdeckten in den 1960er Jahren die überwucherten Überreste der Wikingersiedlung, darunter Spuren von Hütten aus Holz, Torf und Grassoden, wie auch Hinweise auf eine Schmiedestätte, aus Knochen geschnitzte Nadeln, Bronzeschmuck und Pflanzenreste aus wärmeren Klimazonen.
Heutzutage gibt es hier allerlei zu bestaunen: kostümierte Tourguides (natürlich im Wikinger-Stil!) führen durch die originalgetreu rekonstruierten Hütten und erzählen von Überlieferungen der damaligen Zeit. Das Besucherzentrum lockt mit Workshops zum Weben, Bearbeiten von Metall oder Herstellen eines Lederbeutels im Nordmann-Stil und stellt allerlei Artefakte aus. In der Nähe befindet sich ein nachgebauter Wikinger-Handelshafen, Norstead, in dem Besucher an traditionellen Wikingerspielen teilnehmen und den Nachbau des Drachenboots „Snorri“ genauer unter die Lupe nehmen können – benannt nach dem ersten auf amerikanischem Boden geborenen Europäer, so will es zumindest die Legende. Von Ende Mai bis Anfang Oktober werden geführte Touren geboten und die Gegend lädt zu ausgedehnten Wanderungen ein (Picknick nicht vergessen!).
Baskische Walfangstation Red Bay
Red Bay National Historic Site – Bildnachweis: Newfoundland and Labrador Tourism/Barrett and MacKay
An der nordöstlichen Spitze des kanadischen Labradors, genauer gesagt an der Nordseite der Belle-Isle-Straße, ruht das Fischerdorf Red Bay, das 1530 ein blühendes Zentrum für den Walfang war. Etwa 70 Jahre lang war es die weltweit erste große, vorindustrielle Stätte zur Ölgewinnung nach europäischer Tradition. Mit dem Erliegen des Walfangs geriet das Dorf für lange Zeit in Vergessenheit – bis im Jahre 1977 eine Engländerin (verheiratet mit einem Architekten, der Beziehungen mit dem Baskenland Nordspaniens und Südfrankreichs hatte) wieder auf den Ort und seine geschichtliche Bedeutung aufmerksam wurde und mit der Royal Canadian Geographic Society zusammenarbeitete, um die ehemalige Walfangstation aufzudecken. Heute ist es eine historische Stätte, die an die Tausenden baskischen Seefahrer erinnert, die in den launischen Küstengewässern Grönland- und Glattwale jagten, um den wertvollen Tran zu gewinnen.
Zahlreiche Fundstücke, wie zum Beispiel Böttchereien und Öfen für die Ölgewinnung, sind gut erhalten und auf Saddle Island am Eingang der Bucht ausgestellt, die nach einer kurzen Bootsfahrt zu erreichen ist. Zu den weiteren Attraktionen zählen die 500 Jahre alten Dachziegel aus rotem Ton sowie ein Friedhof mit 145 Gräbern, die von den Gefahren des Walfangs zeugen. Ein Spaziergang durch den historischen Ort führt vorbei an alten Kais und Überresten von Walknochen bis hin zu vier gesunkenen Galeonen, vor der Küste, darunter die San Juan, die 1565 unter der Wucht der Wellen sank. Das Besucherzentrum beherbergt Artefakte wie Ölfässer und Navigationsinstrumente sowie riesige Walskelette, die im Kontrast zu den Harpunen und kleinen offenen Booten, mit denen die Basken loszogen, stehen. Von Neufundland aus geht’s mit der Fähre Richtung Blanc-Sablon (Québec), um entlang des Labrador Coastal Drive die Grenze zur Provinz Labrador zu überqueren und nach einer insgesamt etwa einstündigen Fahrt Red Bay zu erreichen.
Gros-Morne-Nationalpark
Bon Tours’ Western Brook Pond Boat Tour, Gros-Morne-Nationalpark – Bildnachweis: Newfoundland and Labrador Tourism
Plattentektonik und Kontinentaldrift? Der dramatische Gros-Morne-Nationalpark an der Westküste Neufundlands ist hierfür ein besonders eindrucksvolles Beispiel. Hier können sich Besucher von den geologischen Kräften überzeugen, die vor Äonen aus dem gewaltigen Zusammenspiel von Wasser- und Landmassen die Landschaft formten, die über Millionen Jahre hinweg zurechtgeschliffen wurde und heute als einzigartiges Naturphänomen gilt. Es gibt einfach alles zu bestaunen: offengelegte, ozeanische Erdkruste, Vulkangestein, von Gletschern geformte Felsen und Täler, hoch aufragende Süßwasserfjorde und steil abfallende Klippen, Hochebenen und karge Landzungen, Wasserfälle und Fossilien, kristallklare Seen, Moore und natürlich spektakuläre Ausblicke auf das Meer. Bereit für natürliche Schönheit der Superlative? Eins steht fest: Bei über 1.800 Quadratkilometern Wildnis, geprägt von unberührter Topografie, möchte man am liebsten alle paar Meter innehalten, um den Anblick auf sich wirken zu lassen.
Doch gerade aufgrund der Weite und unbeschreiblichen Vielfalt des Parks will die Zeit priorisiert und die Tour durchdacht sein. Hier ein paar Stopps, die auf jeder Route stehen sollten: das Discovery Centre nahe Woody Point im südlichen Teil des Parks, der von Gletschern geformte Western Brook Pond, wo eine Bootstour auf dem Fjord zu den Felswänden, die gut 600 Meter in die Höhe ragen, und zu Sandstränden führt. Ein weiteres Highlight sind die Tablelands – das felsige Gebiet besteht aus Peridotit, einem Material aus dem Erdmantel, das für die meisten Pflanzen giftig und somit für die wüstenartige Mondlandschaft verantwortlich ist. Mit etwas Glück laufen auch mal Elche oder Karibus durchs Foto: am besten auf der malerischen Wanderung durch die Tablelands (etwa vier Kilometer) oder entlang des Green Gardens Trail (neun Kilometer) Ausschau halten. Falls sich die tierischen Einwohner doch mal nicht blicken lassen, machen die seltenen und ungewöhnlichen Lavaformationen an der Küste, das Ziel der letzten Wanderung, jede Enttäuschung wett. Wer so viel Natur mit etwas Kultur durchsetzen will: Im Park findet ein Theaterfestival statt und auch Schriftsteller kommen zusammen, beflügelt von den sagenhaften Panoramen.
Lust auf mehr? Auch nach vier UNESCO-Stätten hält Neufundland noch etliche weitere Überraschungen bereit. Weiter geht’s mit diesen Top-10-Attraktionen.